Das gute Ding
1. Dezember 2016Carmen Zirngibl
6. Dezember 2016Nachhaltig staunen
— Eine philosophische Gratwanderung
Der Ursprung der Philosophie, so versichern uns schon Platon und Aristoteles, ist das Staunen. Die Neuzeit staunt darüber, dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts. Seit wenigen Jahrzehnten ist ein neuer Gedanke zu bestaunen, der „Nachhaltigkeit“ genannt wird. Das will ich als philosophischen Auftrag fassen und der Nachhaltigkeit denkend nachgehen.
Dieses Nachgehen ist einer von vielen denkbaren Denkwegen; dass ich mich eher suchend als mit einem klaren Ziel vor Augen diesem Weg zuwende, hat drei Gründe: Zum Ersten erscheint mir die Aussicht von diesem Pfad, der eher einem Grat-Wanderweg als einer Autobahn gleicht, interessant und durchaus abwechslungsreich. Zum Anderen hat sich dieser Weg in zwölf Jahren Arbeit mit Nachhaltigen Designern als ein verlässlicher Weg herausgestellt. Und zum Dritten hoffe ich, dass ich die eine oder andere Weggabelung für die nachhaltig geschulten Leserinnen und Leser überraschend sein wird. Also auf!
Nebelfeld — Stinkefinger
Durchqueren wir zuerst ein trübes Nebelfeld, die Ethik. Nachhaltigkeit ist auf den ersten Blick eine irgendwie ethische Angelegenheit, weil man soll, was man nicht möchte. Das ist nicht grundsätzlich falsch, denn nachhaltiges Handeln bedeutet, dass man die prinzipielle Verantwortung über die privaten Interessen hinaus anerkennt und zu sich selbst „Du sollst!“ sagt. Und hier ist der Haken: All zu gerne sagen wir „Du sollst!“ nicht zu uns selbst, sondern zu anderen, und fühlen uns durch die richtige innere Haltung von äußeren Handlungen entbunden.
Moralische Appelle bewirken in der Nachhaltigkeitskommunikation das Gegenteil dessen, was sie sollen, nämlich Abwehrreflexe. Das ist kein Zufall: Ein soziologischer Blick erweist knappe 10% der Bevölkerung als empfänglich für eine moralisch eingefärbte Diktion; das sind die 10%, die ohnehin schon einen nachhaltigen Lebensstil pflegen. Die anderen 90%, bei denen eine Veränderung von Praktiken äußerst zielführend wäre, reagieren ablehnend oder indifferent. Nicht umsonst sind der moralische Zeigefinger und der „digitus impudicus“, der ausgestreckte Mittelfinger, unmittelbare Nachbarn.
Waldweg — Försterlatein
Lassen wir also die Ethik hinter uns und ziehen weiter unseres Denkweges. Er führt jetzt durch den Wald. Der deutsche Wald sehr ordentlich, denn schon seit der Frühen Neuzeit ist er reguliert. Es brach damals in einigen Gegenden der Bergbau zusammen, weil es nicht mehr genug Holz gab, um die Stollen zu stützen und zu sichern. In der Folge wurden Forstordnungen erlassen, um die knappe Ressource Holz zu verwalten. Es war 1713, als Hans Carl von Carlowitz in seiner Schrift „Sylvicultura oeconomica“ nicht nur das Prinzip des nachhaltigen Wirtschaftens, sondern auch den Begriff „Nachhaltigkeit“ selbst prägte, wenn er schrieb, es bedürfe der größten Kunst und Wissenschaft, den Wald so zu bewirtschaften, dass seine dauerhafte Nutzung für die Entwicklung des Landes gewährleistet sei.
Wir haben es hier mit einem genuin traditionalen Denken zu tun, mit der Verantwortung für den Bestand, den auch künftige Generationen nutzen sollen. Dieses Denken entfaltete seine Bedeutung vor etwa 15.000 Jahren, als die neolithische Wende sich auszubreiten begann. Ihre Grundregel: Von jeder Ernte muss ein bestimmter Teil für die Aussaat des nächsten Jahres zurückgehalten werden, um auch dann wieder eine Ernte zu haben. Das ist konservativ im engeren Sinne, als Bewahren der Ressourcen für die Zukunft. Jedes verantwortliche Wirtschaften wird in Generationen, nicht in Quartalen denken.
Lichtung — Gretchenfrage
Wir treten aus dem Wald heraus, auf eine Lichtung mit Kreuz. Zeit für die Frage, wie wir es mit der Religion halten. Wenn Nachhaltigkeit irgendwie ethisch ist, warum nicht auch religiös? Verpflichtet uns nicht gerade ein Schöpfergott zur Bewahrung seiner Schöpfung? Es war dieser fürsorgliche Grundgedanke, der das religiöse Denken bis zum Beginn der Neuzeit geprägt hat: Das alttestamentliche „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan“ (Gen. 1, 28) wird neuzeitlich im Sinne von „herrschen“ und „unterwerfen“ übersetzt. Man käme aber dem Wortsinn der hebräischen Verben näher, wenn man die Verantwortung und Fürsorge mit übersetzen würde, die darin mitklingen. Die religiöse Verantwortung für die Schöpfung wäre eine prima Idee, wenn bloß die Welt ein wenig frömmer wäre. Aber religiöse Gebote haben schon seit Jahrhunderten ihre normative Kraft für Gesellschaften verloren, spätestens mit der Reformation wurden sie ins Private exiliert.
Die Gretchenfrage, nachhaltig gestellt, könnte lauten: Ist Nachhaltigkeit eher evangelisch oder katholisch? Zum Reformationsjubiläum hören wir jetzt täglich: Allein im Glaube sei der Mensch gerechtfertigt, modern gesprochen: Es zählt die Absicht, die innere Haltung. Luther warf den Katholiken vor, sie suchten Erlösung in äußeren Werken wie dem Ablasshandel. Die nachhaltige Entwicklung widerruft diese Grundannahme der Reformation und rehabilitiert den Ablasshandel. Denn bei der Nachhaltigkeit ist die innere Haltung völlig gleichgültig, was zählt, sind die angemessenen Verhaltensweisen. Was fruchtet es, wenn ich die richtige Überzeugung habe und dennoch anders handle?
Die Beispiele für genau diesen Fall sind Legion! Umgekehrt kümmern sich weder das Klima noch die begrenzten Ressourcen darum, warum ich sie schone, solange ich es tue. Nachhaltige Lebensstile haben eine erfrischende Oberflächlichkeit: Es genügt völlig, einige Dinge zu unterlassen, oder, wenn ich sie doch tue, mit mir selbst einen kleinen Ablasshandel zu betreiben und an anderer Stelle zu kompensieren.
Gratwanderung — Lebenskunst
Von der Lichtung gehen wir einen Pfad weiter, der uns auf einen schmalen Grat führt, an beiden Seiten steile Abgründe. Ein gefährlicher Weg im Angesicht des jederzeit möglichen Absturzes. Wir müssen auf diesem Weg stets das rechte Maß bewahren, umsichtig und vorsichtig nach allen Seiten. Für Aristoteles war dieses Maßhalten eine der vier Kardinaltugenden, die Sophrosyne. In unseren exaltierten Lebensstilen vernachlässigen wir diese antike Tugend auf riskante Weise. Und damit gelangt dieser Streifzug zu seiner eigentlichen Pointe.
Die natürlichen Ressourcen des Planeten sind ebenso begrenzt wie das Wertvollste, das wir als Individuen haben, nämlich unsere Lebenszeit. Sie ist fraglos begrenzt, wie auch die Ressourcen des Planeten — aber doch viel konkreter, denn Lebenszeit ist für jeden Einzelnen von uns auf je eigene Weise begrenzt. Delikaterweise auf je unbekannte Art.
Diese beunruhigende Mischung aus Gewissheit des Todes und Ungewissheit seines Zeitpunkts ist der Horizont der menschlichen Existenz, das „Sein zum Tode“, wobei der Tod nicht einfach ein letztes Ereignis ist, sondern das Leben auf ihn hin strukturiert. Heidegger nennt das „die Sorge“. Die ist nicht nur das Besorgtsein, sondern auch das Sorgen, Umsorgen, Fürsorgen für die eigene Existenz und die unserer Mitmenschen. Renten-, Kranken- und Lebensversicherungen sind die ökonomisch-sozialen Realisationen der Sorge.
Hochplateau — Gestaltungsauftrag
Schon früh in der Philosophie hat man aus der Sterblichkeit gestalterische Konsequenzen gezogen. Epikur postuliert eine Lebensgestaltung der Schlichtheit, Mäßigung und Selbstbeschränkung, die einen nicht zu heftigen, dafür aber möglichst langanhaltenden Genuss gewährleisten soll. Epikur wird nicht mehr viel gelesen, aber seine Erbwalter sind die Diät- und Ernährungsapostel und der nicht versiegen wollende schlammig-seichte Strom an Sinn- und Lebensratgebern.
Für Montaigne folgt aus der Begrenztheit der Lebenszeit die Pflicht zur sorgfältigen Gestaltung. Sich mit dem Tode zu befreunden und jeden Tag so zu leben, dass es der letzte sein könnte, sind seine entscheidenden Schlussfolgerungen. Er bringt das in einem Essay mit dem Titel „Philosophieren heißt sterben lernen“ auf dem Punkt. Dort schreibt er, eine der größten Wohltaten sei die Verachtung des Todes. „Es ist ungewiß, wo der Tod uns erwartet – erwarten wir ihn überall! Das Vorbedenken des Todes ist Vorbedenken der Freiheit.“
Weil unsere Lebenszeit eine begrenzte Ressource ist, bedarf sie der sorgfältigen Gestaltung. Sie bringt den Sinn hervor, der sich uns seit der Aufklärung nicht selbstverständlich ergibt. Was auf dieser subjektiv-biografischen Ebene zutrifft, ist ausnahmsweise auf der globalen Ebene richtig: Die Begrenztheit der planetaren Ressourcen ist gleichzeitig schon der Auftrag des maßvollen Umgangs mit ihnen. Aus Mangel folgt Gestaltung.
Von diesem Hochplateau aus führt kein Weg mehr weiter. Wir stehen als Gegenwärtige in der Pflicht dieses Ausblicks, das ist unser Ort. Ja, das ist eine schwere Verantwortung. Aber noch keine Generation von Menschen hat solche Blicke in Zukünfte werfen können, und noch nie hatten Menschen eine größere und schönere Verantwortung wie wir Heutigen. Lasst uns etwas daraus machen!